No sex, please – stimmt das?
Ein ernüchterndes Bild des alltäglichen Frusts in der Liebe gab vor einiger Zeit das
Schweizer Magazin “Tagesanzeiger”: einen bemerkenswerten Einblick in das Sexualleben
von vier Ehepaaren. Sicher sind vier Interviews kein repräsentativer Spiegel, aber Zweifel an
der Möglichkeit langfristiger Beziehungen können einen schon beschleichen.
Drei der vier interviewten Paare ist ihre Partnerschaft sehr wichtig; es sind noch viele
Gemeinsamkeiten da, die man wegen des fehlenden Sexes nicht aufs Spiel setzen will. Und
doch ist das Problem untergründig drängend: Ratlosigkeit und Resignation herrschen vor.
Sind es wirklich nur die Frauen, denen die Lust abhanden kommt? Das ist in dieser
Ausschließlichkeit kaum zu glauben. Doch leider gibt uns der “Tagesanzeiger” kein Beispiel
von einem Paar, bei dem der Mann weniger will als die Frau. Was ist der Grund dafür?
Ungleichzeitige Entwicklung der sexuellen Bedürfnisse
Das Grundproblem bei langfristigen Beziehungen liegt sicher darin, dass sich die Partner
sexuell ungleichzeitig entwickeln. Frauen richten in jüngeren Jahren ihre Sexualität sehr
stark auf den Mann aus. Das ist eine eher mädchenhafte Sexualität, die sich oft nach der
Geburt von Kindern verändert.
Die Geburt eines Kindes ist ein gewaltiger Einschnitt in das Leben und den Körper der Frau,
sodass sich die Bedürfnisse oft verändern. Währenddessen sind die Wünsche und
Gewohnheiten des Mannes meist gleich geblieben.
Von einer weiteren Veränderung in ihrer sexuellen Entwicklung berichten Frauen im Alter
von 45 Jahren aufwärts. Auch hier finden wieder körperliche Wandlungen statt, die auch die
Sexualität betreffen. Oft suchen Frauen in diesem Alter nach ihrer ganz eigenen Sexualität,
die in ihnen wohnt und die sich nicht in erster Linie auf den Mann ausrichtet. Dies kann
einhergehen mit einer – manchmal sehr langen – Zeit von Lustlosigkeit.
Vor allem Frauen in dieser Lebensphase kommen zu uns in die Massage. Sie sind neugierig
auf sich und ihre ganz eigene Sinnlichkeit, die ganz aus ihnen selbst kommt, und bei der sie
sich nicht auf jemand beziehen müssen, der selbst Bedürfnisse hat.
Wenn eine Frau den Raum und die Zeit hat, sich neu und an sich selbst zu orientieren, ist es
sehr gut möglich, dass sich die Lust auf den Mann von selbst wieder einstellt. Vielleicht auf
eine ganz andere Art als davor. Vielleicht nimmt sie das Konzept in die Hand, vielleicht kann
sie den Mann als reife Frau besser führen, kann ihm zeigen, was sie braucht und will.
In vielen Fällen wissen Frauen oft selbst nicht, wie sie mit den Veränderungen umgehen
sollen und befürchten etwas stimme nicht mit ihnen. Eine Zeit ohne Druck und Verpflichtung
wäre hilfreich. Denn wie kann die Frau diese Phasen in Ruhe durchlaufen und als “normal”
begreifen, wenn sie sich ihrem Mann sexuell verpflichtet fühlt?
Was macht der Mann?
Doch was macht der Mann während dieser Lebensphase seiner Partnerin? Das ist die Zeit,
in der viele Ehen in die Brüche gehen. Es heisst dann: “Der Mann ist mit einer Jüngeren
gegangen”. Allerdings behaupte ich, dass die meisten Männer eigentlich bei ihrer Frau und
ihrer Familie bleiben wollen. Die fehlende Sexualität hat allerdings eine hohe Sprengkraft.
Ein erster Schritt, diesen Konflikt zu lösen, könnte sein, dass sich Mann und Frau ohne
Vorwurf und ganz nüchtern eingestehen, dass es eine Ungleichzeitigkeit im sexuellen
Bedürfnis gibt. Klären, was die Frau braucht, was der Mann braucht, wäre der zweite Schritt.Um dauerhafte Lösungen zu finden, kann es hilfreich sein, Paarseminare zu belegen oder
eine professionelle Beratung aufzusuchen.
Kleiner Blick in einen anderen Kulturkreis
Dass nicht nur wir in Westeuropa mit diesem Konflikt konfrontiert sind, zeigt ein Blick in eine
andere Kultur: Von manchen Indianerstämmen wird gesagt, dass sie sehr pragmatisch damit
umgehen. Lernt z.B. ein verheirateter Mann eine Frau kennen, die gerne mit ihm schlafen
möchte, so geht diese Frau zu der Ehefrau ihres “Erwählten” und bringt ihr ein so genanntes
“Medizingeschenk”. Damit bittet sie die Ehefrau, für eine Zeit mit ihrem Mann Sex haben zu
dürfen. Die Ehefrau hat selbstverständlich das Recht, diesen Wunsch zu verweigern.
Sie dürfte unter bestimmten Umständen aber ganz froh darüber sein, denn sie wird als
Ehefrau gewürdigt und braucht keine Angst zu haben, dass die andere Frau ihren Mann
“wegnimmt”. Ihr Mann kann Sex haben, während die wertvollen Seiten der Partnerschaft
unangetastet bleiben. Damit löste sich die Spannung auf, die von uneingelösten
Erwartungen und Wünschen herrührt.
Vielleicht inspiriert uns ja diese indianische Lebenspraxis zu einer Lösung, die uns
entspricht. Träumen, dass es auch ganz einfach gehen könnte, ist jedenfalls erlaubt.